Urteil zur Scheinselbstständigkeit
Wann sind Therapeuten abhängig beschäftigt, wann sind sie selbstständig?
Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hatte über einen Fall zu entscheiden, in welchem ein ausgebildeter Physiotherapeut neben der Tätigkeit in einer eigenen Privatpraxis für Biokybernetische Physiotherapie in einer nach § 124 SGB V zugelassenen Praxis mit fünf Physiotherapeuten auf der Grundlage eines „Vertrags über freie Mitarbeit“ arbeitete. Der freie Mitarbeiter beantragte bei der Rentenversicherung Feststellung seines sozialversicherungsrechtlichen Status, welche nach einem Anhörungsverfahren das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung feststellte. Gegen diesen Bescheid klagten sowohl der Therapeut als auch die Praxis, woraufhin das Sozialgericht in erster Instanz Freiberuflichkeit annahm und die Bescheide der Rentenversicherung aufhob. Aufgrund der von der Rentenversicherung eingelegten Berufung hob das LSG das erstinstanzliche Urteil auf und entschied für das Vorliegen von abhängiger Beschäftigung aufgrund der Erfüllung folgender Merkmale:
- Maßgebliche Anhaltspunkte für eine versicherungspflichtige Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen sowie die Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.
- Bei höherqualifizierten Tätigkeiten kann die weisungsgebundene Tätigkeit „verfeinert“ sein zur „funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“.
- Selbstständige Tätigkeit wird dagegen geprägt durch (i) eigenes Unternehmerrisiko (ii) eigene Betriebsstätte (iii) Verfügungsmöglichkeit über eigene Arbeitskraft sowie (iv) die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit
- „Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbstständig tätig ist, hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen.“ Dazu ist ein “Gesamtbild“ zu erstellen, welches sich aus dem Vertragsverhältnis ergibt, so wie es im Rahmen des Zulässigen vollzogen wird.
Das LSG hatte auf der Grundlage des mit dem Physiotherapeuten geschlossenen Vertrags über freie Mitarbeit, wie er in der Praxis gelebt wurde, eine abhängige Beschäftigung angenommen. Maßgebliche Punkte waren im entschiedenen Fall die Annahme von Patienten durch die Praxis, kein eigener Patientenstamm des Therapeuten in relevantem Umfang, Nutzung der Räume der Praxis einschließlich deren Telefon- und EDV-Anlage, Abstimmung mit weiteren Therapeuten zur Raumbelegung, kein eigener Marktauftritt des Therapeuten (keine eigene Website), Abrechnung der erbrachten Behandlungen über das Abrechnungssystem der Praxis und schließlich Fehlen eines echten Unternehmerrisikos, nämlich kein Entstehen von Kosten für anfallende oder schon getätigte Investitionen.
Das LSG betonte in der Entscheidung, dass die Abgrenzung zwischen Beschäftigung und Selbstständigkeit „nicht abstrakt für bestimmte Berufe und Tätigkeitsfelder“ getroffen werden kann, sondern immer nur anhand der konkreten Ausgestaltung des Einzelfalls aufgrund des geschlossenen Vertrags und wie dieser gelebt wird. Für die podologische Praxis folgt daraus:
- Es ist besonderes Augenmerk auf die Ausgestaltung des Vertrags über freie Mitarbeit zu legen, wobei die gelebte Praxis dessen Vorgaben folgen muss. Der Vertrag ist ggf. einem Rechtsanwalt, vorzugsweise einem Fachanwalt für Arbeitsrecht zur Prüfung vorzulegen.
- Wer auf „Nummer sicher“ gehen will, kann bei der Deutschen Rentenversicherung ein Statusfeststellungsverfahren einleiten, in welchem über die Einordnung der Tätigkeit aufgrund der Ausgestaltung des Einzelfalls entschieden wird.
Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 16.07.2021 zur Scheinselbstständigkeit eines Physiotherapeuten (Az.: L 4 BA 75/20 - zitiert nach juris)
Dr. Karin Althaus-Grewe, Rechtsanwältin, Fachanwältin für gewerblichen Rechtsschutz